Dienstagsdialog des Förderfonds Wissenschaft in Berlin

(Un-)soziale Medien. Nehmen Einsamkeit und soziale Isolation im digitalen Zeitalter weiter zu?

3. November 2020

 
Mit Prof. Dr. Birgit Reißig

Leiterin des Forschungsschwerpunkts "Übergänge im Jugendalter" und der Außenstelle Halle am Deutschen Jugendinstitut und Honorarprofessorin für Jugendhilfeforschung an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig
 

Viele Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen sind beunruhigt, dass die häufige Nutzung sozialer Medien und des Internets einen negativen Einfluss auf das seelische und körperliche Wohlbefinden von Heranwachsenden haben könnte. Diese Sorgen sind nicht unberechtigt – bereits 63 Prozent der Zehnjährigen sind heute im Besitz eines Smartphones. Welche Chancen und Risiken birgt der Zugang zu digitalen Angeboten insbesondere für die Entwicklung von Jugendlichen?

Um die gute Nachricht gleich vorweg zu nehmen: Die Befunde von Birgit Reißig, die sie vor allem aus Befragungen wie der Längsschnittstudie "Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten" (AID:A) gewonnen hat, zeigen zunächst keine alarmierenden Anzeichen für einen Anstieg von Einsamkeit und Isolation bei Jugendlichen in Folge der Nutzung sozialer Medien. Ganz im Gegenteil, die Nutzung von WhatsApp, Instagram, TikTok, YouTube & Co. scheint junge Menschen eher zusammenzubringen und durchaus auch positive Effekte auf die Häufigkeit von Kontakten unter Gleichaltrigen zu haben. Der JIM-Studie von 2019 zufolge habe die Zunahme der Nutzung von Social Media-Angeboten bei Jugendlichen auch keinen signifikanten Einfluss auf die Häufigkeit von Freizeitaktivitäten, wie Sport, Musik oder andere Hobbys.

Die sozialen Medien böten zudem einen Freiraum, in dem Jugendliche ihre individuelle Entwicklung als Akteure auch selbstständig mitgestalten könnten. Im Idealfall würden sie hier auch soziale Zugehörigkeit erleben und verantwortliches Handeln erlernen. Bei allen Risiken, insbesondere durch die in den Medien um sich greifende "Selbstdarstellungskultur", die Reproduktion von Geschlechterstereotypen oder Mobbing, müsse man auch die Chancen im Umgang mit Online-Angeboten in Betracht ziehen. 

Allerdings scheine die intensive Nutzung digitaler Medien ein bereits vorhandenes Risiko sozialer Ungleichheit tendenziell eher zu verstärken. Junge Menschen mit geringen Bildungsvoraussetzungen seien hiervon besonders stark betroffen. Zudem finde die Identitätskonstruktion von Jugendlichen zunehmend im digitalen und damit in einem ungeschützten Raum statt. Dies bedeute auch, dass die Jugendlichen verstärkt problematischen Identifikationsangeboten sowie der Konsumwerbung ausgesetzt seien.

Eine Befragung von jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 19 und damit in einem Entwicklungsstadium, in dem besonders zukunftsweisende Entscheidungen getroffen werden müssen und wichtige Ablösungsprozesse stattfinden, habe ergeben, dass mentale Probleme, wie beispielsweise Depressionen oder ein negatives Selbstkonzept, gerade bei jungen Frauen mit der Häufigkeit der Internetnutzung eher zunehmen. Zu den Auswirkungen der sozialen Medien auf die mentale Gesundheit bestehe aber noch erheblicher Forschungsbedarf. In jedem Falle sei ein kontrollierter Umgang mit digitalen Angeboten für den Schutz und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in besonderem Maße wichtig. Eine altersgerechte und sozial vertretbare Anwendung sozialer Medien sollte durch darin speziell geschulte Pädagogen und entsprechend informierte Eltern angeleitet werden. 

"Die digitale Welt verändert sich in rasantem Tempo – und mit ihr die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen sie sich abspielt. Damit wir wissenschaftlich fundierte Ergebnisse über die Auswirkungen dieses Wandels erhalten, müssen insbesondere auch Langzeitstudien angelegt und Ländervergleiche angestrebt werden. Die Nutzung des Internets in all seinen Formen ist ein weltweiter Prozess, der in einzelnen Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Wir sollten Lernprozesse in diesem Bereich ermöglichen, um für die digitale Zukunft besser gewappnet zu sein", so Birgit Reißig.