If the pandemic is over, what are the lessons (demographers) learnt?
15. Dezember 2020
Mit Prof. Dr. Melinda Mills
Nuffield Professor of Sociology and Director of the Leverhulme Centre for Demographic Science at the University of Oxford & Nuffield College
Die soziodemografische Forschung bildet eine wichtige Grundlage für evidenz-informierte Entscheidungen von Politik und Gesellschaft über den Umgang mit der COVID-19-Pandemie. In welchen Bevölkerungsgruppen breitet sich das Virus besonders häufig aus? Warum sind einige Länder auf Grund ihrer Bevölkerungszusammensetzung stärker von der Pandemie betroffen als andere? Wie ist die Situation der Betroffenen, etwa von älteren Menschen oder von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in "systemrelevanten Berufen", und wie könnten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zielgerichteter eingesetzt werden (etwa bei der Impfstrategie)? Schließlich: Was sind die langfristigen Auswirkungen der Pandemie, etwa auf die Lebenserwartung der Menschen? Dies sind nur einige der Fragen, die Melinda Mills in ihrem Vortrag und in der Diskussion behandelte.
England und Wales gehören zu den am stärksten von der Pandemie betroffenen Regionen weltweit. Die Ausbreitung des Virus führte dort bereits zu einer durchschnittlich um ein Jahr verkürzten Lebenserwartung, sie ist also faktisch auf den Stand von 2010 zurückgefallen. Auch Italien und Brasilien sind stärker als viele andere Länder von der Pandemie betroffen. Dies lasse sich unter anderem auf einen vergleichsweise hohen Anteil älterer Bürgerinnen und Bürger (60+) an der Bevölkerung, die einem Infektionsrisiko besonders stark ausgesetzt sind, zurückführen. Im Vergleich dazu verzeichnen Staaten in Afrika, wie etwa Nigeria, eine deutlich niedrigere Mortalität durch COVID-19, was auch mit dem niedrigeren Durchschnittsalter der Bevölkerung (nur drei Prozent über 65 Jahre), bereits bestehenden Erfahrungen im Umgang mit Epidemien (wie dem Ebola-Virus) und einer strikteren und frühzeitigeren Lockdown-Politik zu tun hat. In Asien kann man gerade den Effekt von Seuchenschutzmaßnahmen deutlich erkennen. Dort gab es beispielsweise, anders als in anderen Ländern weltweit, keine Diskussion über die Notwendigkeit des Tragens von Mund- und Nasenschutz, zumal es vielerorts bereits vor der Pandemie üblich war, Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit zu benutzen.
Melinda Mills erläuterte, wie die Funktionsweise sozialer Netzwerke für die Verbreitung des Virus ausschlaggebend sein kann. Diese könnten zwar zu einer höheren Anzahl sowie einer größeren räumlichen Verteilung von Kontakten führen. Doch neigten Menschen dazu, ihre Kontakte eher innerhalb der eigenen sozialen Gruppe und auf "Gleichgesinnte" zu beschränken, etwa in beruflichen Kontexten und am Arbeitsplatz. Insofern könnten soziale Netzwerke auch dazu beitragen, dass die Häufigkeit neuer Kontakte sinke und sich das Virus über das eigene soziale Netzwerk hinaus weniger stark ausbreite. Die Forschung zu sozialen Netzwerken könnte insofern wichtige Empfehlungen für die Pandemie-Bekämpfung erarbeiten. Darüber hinaus könnten auch regionale Cluster definiert werden, zum Beispiel Gebiete, in denen proportional besonders viele ältere Menschen leben, so dass sich die dort ansässigen Einrichtungen des Gesundheitswesens und im Pflegebereich besser auf eine potentiell bevorstehende stärkere Auslastung vorbereiten können.
Nach Mills Einschätzung sei die Wertschätzung der Öffentlichkeit für die Wissenschaft während der Pandemie generell eher gestiegen. Es gebe also Anlass zu Optimismus, dass man auch in Zukunft die Gesellschaft besser informieren und die Entscheidungsträger mit wissenschaftlicher Evidenz versorgen könnte. Allerdings könne dieser Effekt auch umschlagen, etwa wenn die von der Wissenschaft vorgelegten Ergebnisse und Empfehlungen nicht den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger entsprechen würden. Es gelte, Forschungsergebnisse so aufzubereiten und zu präsentieren, dass sie von solchen Zielgruppen besser nachvollzogen werden könnten. Dies sei eine wichtige Aufgabe der Wissenschaftler*innen bzw. der Menschen, die über Wissenschaft berichten.
"Ich freue mich, dass in dem geplanten Einstein Center for Population Diversity so viele Fachrichtungen gemeinsam an den Zukunftsfragen unserer Gesellschaft arbeiten werden. Hierzu gehören neben der Erhebung soziodemografischer Daten zur Interpretation bestimmter Ereignisse auch die Untersuchung von Veränderungen der Bevölkerungsstruktur, unter anderem in Bezug auf Alter, Familienstand, Gesundheit, Migrationshintergrund oder Bildung. Diese Untersuchungen sind elementar, zumal wenn wir auf eine Situation wie die der COVID-19-Pandemie in Zukunft besser vorbereitet sein möchten", resümiert Melinda Mills.