Die Gegenwart der Zukunft. Wie COVID-19 unsere Erwartungen verändert
12. Januar 2021
Mit Prof. Dr. h.c. Jutta Allmendinger, Ph.D.
Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin
Wie beurteilen Menschen in Deutschland ihre eigene Gegenwart, und wie stellen sie sich eine lebenswerte Zukunft vor – für sich selbst und für die nächste Generation? Welche normativen Vorstellungen prägen sie dabei? Wie beurteilen sie ihre eigene Rolle und die ihrer Mitmenschen darin? Und welche Veränderungen sind sie bereit, dafür einzugehen? Diesen Fragen widmet sich die Vermächtnisstudie, die von der ZEIT, infas und dem WZB in Auftrag gegeben und in den Jahren 2015, 2018 und 2020 durchgeführt wurde – letztere während der Corona-Pandemie.
Jutta Allmendinger erläutert drei Schwerpunkte, die bei den Befragungen im Rahmen der Vermächtnisstudie eine besondere Rolle gespielt haben. Der erste Fragenkomplex spiegelte die eigene Einstellung zum Leben, also das "Hier und Jetzt" wider. Bei dem zweiten Fragenkomplex wurden normative Einstellungen untersucht: Welche gesellschaftlichen Strukturen und Wertvorstellungen sind den Befragten besonders wichtig und welche sollten beibehalten werden? Die dritte Dimension behandelte die Erwartungen an die Zukunft, wie es tatsächlich kommen könnte. Besonders interessant sei dabei der Bezug des ersten und zweiten Schwerpunkts gewesen, also das sogenannte "Delta" zwischen "Haben" und "Soll": Wie lebe ich, und wie würde ich gerne leben? Werde ich meinen eigenen Ansprüchen in der Realität gerecht? Denn daran lasse sich die Zufriedenheit der Menschen mit ihrem Leben in der Gesellschaft messen.
Obwohl sich die Lebensstile der Menschen in Deutschland stark unterscheiden würden, habe es doch viele Parallelen im Antwortverhalten gegeben. Was alle Menschen verbinde, sei der Wunsch nach Gemeinschaft und Nähe, wenn auch eher beschränkt auf die engeren Familien- und Freundeskreise. Darüber hinaus spiele eine sinnstiftende Erwerbstätigkeit immer noch eine wichtige Rolle für die eigene Lebenszufriedenheit – selbst dann, wenn die Menschen finanziell so unabhängig gewesen seien, dass sie eigentlich nicht mehr hätten arbeiten müssen. Die Kontrolle über das eigene Leben habe ebenfalls einen hohen Stellenwert. Einigkeit habe auch darin bestanden, dass Technik und dabei insbesondere digitale Medien in der Zukunft eine zunehmend wichtigere Rolle für das eigene Leben spielen würden. Hier zeigten die Menschen in Deutschland eine große Anpassungs- und Lernbereitschaft – und keineswegs die oft konstatierte Technikfeindlichkeit.
Die Befragten nahmen für sich selbst in Anspruch, den eigenen Erwartungen weitestgehend zu entsprechen und dies auch an die nächste Generation weitergeben zu wollen. Die Studie offenbarte zudem, dass bei vielen Menschen eine größere Diskrepanz hinsichtlich der Einschätzung bestehe, ob auch ihre Mitmenschen sich an diese Vorstellungen halten und sich in gleichem Maße etwa für die eigene Familie, für den Beruf oder die Gesellschaft engagieren würden.
In diesen hypothetischen Annahmen über das erwartbare Verhalten anderer und im sozialen Miteinander mit anderen Menschen hätten sich die größte Zukunftsskepsis und die größten Vertrauensdefizite bei den Befragten offenbart.
Seit Beginn der Pandemie habe sich die zunehmende Selbstisolation gesteigert, zumal während des Home Offices und der Schul- und Kitaschließungen wichtige Orte des sozialen Austauschs und des Miteinanders weggefallen seien. Den Menschen sei in dieser Zeit der Isolation nichts anderes übriggeblieben, als sich mit neuen Techniken vertraut zu machen. Gerade ältere Menschen hätten sich diesen Veränderungen geöffnet, schließlich wollten sie weiter mit der Familie und insbesondere der jungen Generation, den Enkeln, in Kontakt bleiben. Dies habe dazu geführt, dass gerade die älteren Altersgruppen nun selbstbewusster und offener mit digitalen Medien umgingen. Diese "Selbstermächtigung" der Menschen stelle insgesamt einen positiven Effekt in einer schwierigen Zeit der Pandemie dar. Allerdings hätten sich Kontakte immer weiter auf die eigene, engere Umgebung konzentriert. Deshalb sei es wichtig, in naher Zukunft Begegnungsorte auch über die sozialen Milieus hinweg wieder zu ermöglichen. Freiwilligenarbeit oder ein Soziales Jahr könnten hier eine wichtige soziale und gesellschaftliche Funktion übernehmen. Die Gesellschaft sollte auch mehr Mittel bereitstellen, um solche Begegnungsräume zu schaffen und Anreize zu geben, damit sich Menschen den für sie ungewohnten Lebenswirklichkeiten anderer mehr öffneten.
"Es hat Spaß gemacht, im Rahmen der Dienstagsdialoge über die Ergebnisse der Vermächtnisstudie zu sprechen, und die vielen klugen Beiträge der Diskutanten zu hören. Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit, deren Auswirkungen wir bereits heute spüren. Und für die Zukunft werden wir uns unter anderem die Frage stellen müssen: Wo ist dieses eine Jahr hin? Wie können wir Menschen belohnen, die sich in dieser Zeit aus Rücksicht anderen Menschen gegenüber stark zurückgenommen haben? Lassen Sie uns gemeinsam Antworten finden", äußert sich Allmendinger abschließend.