Dienstagsdialog des Förderfonds Wissenschaft in Berlin

Limit to Infinite Error: Dealing with Migration Uncertainty
(Eine Grenze des unendlichen Irrtums: Umgang mit der Migrationsunsicherheit) 

5. April 2022

 
Mit Prof. Jakub Bijak

Professor of Statistical Demography,
University of Southampton
 

Der Dienstagsdialog von Jakub Bijak beschäftigte sich mit den Unschärfebereichen der Forschung zu aktuellen und künftigen Migrationsbewegungen. Besondere Aktualität erlangte der Vortrag dabei durch die Flüchtlingswelle im Zuge des Krieges in der Ukraine.

Grundsätzlich könnten, so Bijak unter Hinweis auf ein Zitat des kürzlich verstorbenen Demografen James W. Vaupel, Bevölkerungsentwicklungen auf Grund der verfügbaren amtlichen Daten zu Geburten und Sterbefällen und der damit verbundenen langfristigen Trends in der Bevölkerungszusammensetzung besser vorhergesagt werden als andere gesellschaftliche Ereignisse. Bei der Migration als dritter Säule der Demografie bleibe dies nach Einschätzung Bijaks jedoch mit starken Unsicherheitsfaktoren behaftet. Dies zeige auch die Situation in der Ukraine: Die vor einigen Jahren in dieser Form nicht vorhersehbare kriegerische Entwicklung habe in den ersten fünf Wochen nach Kriegsausbruch eine Fluchtbewegung ausgelöst, bei der es sich um das größte Migrationsgeschehen in der jüngeren Geschichte gehandelt habe. In einer sehr kurzen Zeitspanne von nur wenigen Wochen hätten sich ungefähr vier Millionen Menschen auf den beschwerlichen Weg ins Ausland begeben – mit erheblichen Herausforderungen für die Flüchtenden selbst sowie für die Aufnahmeländer.

Der Vortrag warf dabei drei Fragen auf: Erstens, was können wir über Wanderungsbewegungen überhaupt wissen und was nicht? Zweitens, wie können Migrationsbewegungen besser vorhergesagt werden? Und drittens, hätten unsere Reaktionen auf die Migrationsbewegungen besser oder effizienter sein können?

Jakub Bijak beginnt mit der Beantwortung der ersten und eher grundsätzlichen Frage, was wir über die Migration überhaupt wissen können. Er unterscheidet dabei verschiedene Arten der Unsicherheit. Einmal die Unsicherheit epistemischer Art, mit der wissenschaftlichen Kenntnis beschäftigt. Diese kann minimiert werden, indem man bei den verwendeten Konzepten, Definitionen und Annahmen methodisch einwandfrei arbeitet. Es gibt viele verschiedene Datenquellen, diese müssten darauf geprüft werden, dass sie qualitativ hochwertig und valide sind. Dann gibt es eine zweite Form der Unsicherheit "aleatorischer" (d.h. vom Zufall bestimmter) Art. Externe Schocks, Kriege, Krisen, menschliches Verhalten oder die Zukunft an sich sind kaum vorhersagbar. Dies spielt vor allem bei Fluchtbewegungen eine besondere Rolle.

In 2022 sind in den ersten fünf Wochen seit Ausbruch des Krieges mehr als vier Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet. Daten des UN-Flüchtlingshilfswerk beziffern die täglichen Grenzübertritte an manchen Tagen auf über 200.000 Menschen. Diese Zahlen sind messbar, sie beschreiben aber nur einen Teil des Geschehens – wir wissen nicht genau, wie viele Menschen insgesamt vertrieben wurden, in welche Länder diese Menschen weiterziehen oder wie viele schon in die Heimat zurückgekehrt sind – nach Schätzungen des polnischen Grenzschutzes immerhin 15 bis 20 Prozent. Schon im Nachgang der Annexion der Krim kamen über 1,5 Millionen Binnenvertriebene in die anderen Regionen der Ukraine, vornehmlich von der Krim und aus den Regionen um Donetsk und Luhansk. Wir können gewissermaßen die Größenordnung der Migrationsbewegung beziffern und den Zeitrahmen. Ein allumfassendes Bild ist jedoch nicht möglich, es bleiben immer Unschärfebereiche.

Im zweiten Teil des Vortrags beschäftigt sich Bijak mit der Frage, wie Migration und Fluchtbewegungen auch unter Bedingungen von Unsicherheit besser vorhergesagt werden könnten. Hierzu gab es nach der letzten großen Flüchtlingskrise in den Jahren 2015/2016 viele wissenschaftliche Erkenntnisse. Derartige Vorhersagen sind ein schwieriges Unterfangen, da es sich um ein sehr komplexes Phänomen mit sehr vielen unbekannten Einflussfaktoren handelt. Dennoch müssen wir die Herausforderung annehmen, um für künftige Zuwanderungen besser gewappnet zu sein.

Makroökonomische Indikatoren, Informationen aus unterschiedlichen Datenquellen (Registerdaten, Befragungsdaten und digitale Nutzerdaten) können helfen, die Datenlage zu verbessern. Selbst Geheimdienstinformationen oder qualitative Auswertungen von Politikinformationen (zum Beispiel aus den Medien) können herangezogen werden. Mit Zeitreihenanalysen und der Erstellung realistischer Szenarien kann man sich dann gezielt vorbereiten und gewissermaßen Entwicklungen einer Flüchtlingskrise vorhersagen. Für die Ukraine hätte solch ein "Frühwarnsystem" schon im Jahr 2014 angeschlagen und eine höhere Wahrscheinlichkeit von Migrationsbewegungen vorhersagen können.

Die letzte Frage, die Bijak aufwirft, setzt sich damit auseinander, ob der Umgang mit Migrationskrisen verbessert werden kann. Die gegenwärtige Erfahrung bei der Bewältigung der Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine zeigt, dass die Zivilgesellschaft, Wohltätigkeitsorganisationen und einige Regierungen schnell und effizient geholfen haben. Auch die schnelle Einbindung der Flüchtenden in den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem seien dabei hervorzuheben. Die EU habe auch zum ersten Mal die Richtlinie für die Gewährung vorübergehenden Schutzes aus dem Jahr 2001 und die 2020 Migration Preparedness and Crisis Blueprint Recommendation aktiviert.

Allgemeiner betrachtet, sei es für Forschende in der Politikberatung wichtig, stets klarzumachen, was mit den Daten gemessen wird und welche Aussagen bis zu welchem Grad an Wahrscheinlichkeit getroffen werden können, und Entscheidungsträger bei der Abwägung der sich daraus ergebenden Risiken zu unterstützen. Es müsse klargemacht werden, dass jede Methode definierbare Grenzen hinsichtlich ihrer Aussagekraft hat. Der Faktor Unsicherheit müsse dabei deutlich kommuniziert werden, wenn Wissenschaft vertrauenswürdige Informationen für Politik und Gesellschaft bereitstellen soll. Während der weltweiten COVID-19-Pandemie haben wir gelernt, wie wichtig dieses Grundverständnis einer beschränkten Reichweite wissenschaftlicher Politikberatung ist. Wenn wir die Unschärfen unserer Erkenntnisfähigkeit explizit benennen, können wir die Welt von morgen in umso glaubhafteren Szenarien vorhersagen und unsere Gesellschaften resilienter für zukünftige Krisen machen.

Videomitschnitt des Dienstagsdialogs mit Jakub Bijak

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Jakub Bijak (Video)